Auf dem aktuellen Active Thinking Forum von GAM Investments erklärt David Dowset, dass wir uns nach einer lebhaften Woche für die Zentralbanken am Übergang zu einer neuen Ära befinden könnten. Paul McNamara erörtert unterdessen, wie sich die Situation in den USA, Europa und China auf die Schwellenländer auswirken wird und wie die langfristigen Folgen des Reshorings aussehen werden.
16. Dezember 2022
David Dowsett, Global Head of Investments
Diese Woche war die letzte vollständige Handelswoche des Jahres. Trotzdem war sie mit Konsumentenpreisdaten und geldpolitischen Sitzungen in den USA, Grossbritannien und Europa vollgepackt. Alle drei Zentralbanken hatten ihre Leitzinsen bei ihrer letzten Sitzung um 75 Basispunkte (Bp.) angehoben und beschlossen bei diesem Anlass Straffungen um jeweils 50 Bp. Unseres Erachtens wird sich der Markt stärker auf die Kommentare bei den Pressekonferenzen und die Prognosen im «Dot Plot» als auf die tatsächlichen Zinserhöhungen konzentrieren. Auch hier gibt es jedoch viele interessante Aspekte, auf die man achten sollte. Insbesondere werden sich die Marktteilnehmer fragen, ob der endgültige Zinssatz der US-Notenbank (Fed) über fünf Prozent steigen wird.
Insgesamt wird dies jedoch vermutlich die letzte Woche sein, in der die Normalisierung der Zinssätze die Marktstimmung beherrscht. Der Grund dafür ist, dass im Hinblick auf das Tempo der Leitzinserhöhungen nun eine andere Ära anbricht. Zum Zeitpunkt der Sitzung in dieser Woche wird die Fed die Leitzinsen in diesem Jahr um über 400 Bp. angehoben haben. Daher werden wir wohl kaum darüber debattieren, ob ein weiterer Zinsschritt von 100 Bp. oder 125 Bp. zu erwarten steht. Im Jahr 2022 drehte sich alles um die steigenden Zinssätze. Wenn jedoch das nächste Jahr anbricht, dürften die Märkte meiner Meinung nach stärker auf die Ergebnisberichte und einzelne Datenmeldungen aus wichtigen Ländern achten.
Da diese Datenmeldungen und geldpolitischen Sitzungen alle in die letzte volle Handelswoche des Jahres fallen, dürften sie eine gewisse Volatilität auslösen, da die Investmentbanken nicht auf Risiken in die eine oder andere Richtung sitzen bleiben möchten.
Paul McNamara, Schwellenländeranleihen
Für die Schwellenländer waren die letzten Jahre schwierig. In dieser Zeit mussten alle Anlageklassen, die auch nur entfernt mit einem Risiko assoziiert wurden – und viele Anlageklassen, die eigentlich kein Risiko bergen – schwere Einbussen hinnehmen.
Eine der grössten Herausforderungen für die Schwellenländer ist die Stärke des US-Dollars. Im Laufe des Jahres hob die US-Notenbank die Zinssätze an und das US-Wachstum war einigermassen robust. Europa kämpfte unterdessen mit Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Energieversorgung und die Europäische Zentralbank hob die Zinsen relativ vorsichtig an. China, ein wichtiger Wachstumsmotor für den Rest der Welt, schlug sich derweil mit Covid-19 herum. In den USA war das Wachstum vergleichsweise zuverlässig. Dies hatte zur Folge, dass der US-Dollar einen der stärksten, jemals in einem Jahr gemessenen Aufwärtstrends verzeichnete. Schwellenländerwährungen standen indes unter Druck.
Obwohl die Inflation in den Schwellenländern schmerzhaft war, beginnt sie sich nun offenbar abzuschwächen. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen den Rohstoffpreisen und der Inflation in den Schwellenländern vor allem bei der Energie noch stärker als in den Industriestaaten ausgeprägt. In den Industrieländern macht die Energie rund fünf bis sechs Prozent des Konsumentenpreisindexes (KPI) aus. In den Schwellenländern hat sie dagegen in der Regel ein Gewicht von 12% bis 15%. Energie wirkt sich auf die Preise von Lebensmitteln, Gebrauchsgütern und vielen weiteren Produkten aus. Der Anteil von Gütern am KPI ist in den Schwellenländern erheblich höher als in den Industrieländern. Daher besitzen die Energiepreise für die Konsumentenpreisinflation in den Schwellenländern eine grössere Bedeutung als in der industrialisierten Welt. Inzwischen sind die Energiepreise aber wieder um über 20% gesunken. Wenn sie weiter fallen sollten, würden sich die Aussichten für die Inflation in den Schwellenländern verbessern und einen soliden Eindruck machen. Dies wäre ein positives Szenario für die Schwellenländer.
Damit das nächste Jahr für die Schwellenländer besser wird, wäre ein kräftigeres Wachstum in China und Europa nötig. Unserer Ansicht nach ist dies durchaus denkbar. Und falls das Wachstum in diesen Regionen tatsächlich die Erwartungen übertreffen sollte, wären die Schwellenländer unseres Erachtens ein gutes Ziel für Investments, da ihre Währungen und Anleihen attraktiv bewertet sind.
In China drehte sich in diesem Jahr alles um Covid-19. Zu Beginn des Jahres bereitete der Immobilienmarkt und der Konkurs einiger Immobilienunternehmen ebenfalls grosse Sorge. Bis zum zweiten Quartal dieses Jahres wurde jedoch deutlich, dass die Reaktion der chinesischen Regierung ausreichen würde, um den Wohnimmobilienmarkt zu schützen. Im Hinblick auf Covid scheint die Wirksamkeit der chinesischen Impfstoffe nicht wesentlich schlechter zu sein als die der westlichen Impfstoffe. Und wenn sich China – wie der Rest der Welt – geöffnet und Covid-Ausbrüche zugelassen hätte, wären die Sterberaten wahrscheinlich ähnlich hoch gewesen wie in den Industrieländern. China kann es sich sicherlich leisten, von seiner Null-Covid-Politik abzurücken, die in diesem Jahr das Wachstum behindert und einigen Rohstoffexporteuren in Chile, Peru und Brasilien das Leben sehr schwer gemacht hat.
Die USA vollziehen im Augenblick eine Gratwanderung. Unserer Meinung nach werden sich die USA ganz gut halten. Es besteht jedoch die Gefahr, dass eine gute Wirtschaftsentwicklung in den USA mit einem anhaltend starken US-Dollar einhergehen würde, was wiederum schlecht für Schwellenländerwährungen wäre. Das Problem in den USA besteht darin, dass ein Anstieg der Zinssätze die Hypothekenzinsen in die Höhe treibt und die Hauspreise fallen lässt. Die Hauspreise sind eine wichtige Komponente des Vermögens von Konsumenten. Die Massnahmen der Fed zur Abkühlung der Konjunktur bremsen also tatsächlich die Wirtschaft ab. Eine Rezession möchten wir allerdings vermeiden, denn dadurch würde die Risikoaversion steigen, womit es erheblich schwieriger wäre, Kapital zu beschaffen. Und selbst wenn die Zinssätze sinken, würden die Kapitalkosten für alle, die mit einem Kreditrisiko assoziiert werden, steigen. Im Augenblick gehen wir im Basisszenario davon aus, dass den USA diese Gratwanderung gelingt und viele der massgeblichen Treiber des enormen Inflationsschubs des letzten Jahres, insbesondere die Energie- und Transportkosten, aber auch die Lieferkettenstörungen im Gefolge von Covid, allmählich wegfallen. Die Konsensprognose für die US-Inflation am Ende des nächsten Jahres lautet 4,3% – dies entspricht circa der Hälfte des Höchstwerts in diesem Jahr. Am Markt ist dies derzeit nicht eskomptiert. Die US-Inflation müsste nur die Erwartungen erfüllen, ohne dass es zu einer Rezession kommt. Dann wäre die Entwicklung in den USA für die Schwellenländer vorteilhaft.
Der Faktor, der uns die grössten Sorgen bereitet, ist der Gaspreis. Wie allen bewusst ist, hat Russland nach dem Einmarsch in der Ukraine die Gaslieferverträge mit Westeuropa gebrochen. Insgesamt liefert Russland nur 9% des gesamten Energiebedarfs in Westeuropa. Das Problem ist, dass sich dieser Prozentsatz stark auf einige wenige, aber bedeutende Länder konzentriert, und zwar insbesondere auf Deutschland, Italien und Österreich. Zudem sind die Lieferungen aus Russland im Winter überproportional wichtig. Der Inlandssektor verbraucht fast das gesamte Gas im Winter. Aus diesem Grund schnellten die Gaspreise in Europa zum Jahresende steil in die Höhe. Obwohl die Preise seitdem wieder gesunken sind, liess sich jedoch ein grosser Teil dieses Rückgangs darauf zurückführen, dass die Käufer verschwunden sind – und dies wiederum nicht, weil sie das gesamte von ihnen benötigte Gas bereits gekauft hätten, sondern weil es dafür keine freien Speicherkapazitäten mehr gibt. Abgesehen von der iberischen Halbinsel haben die Länder in Europa nur genügend Speicherkapazitäten für etwa 14% des jährlichen Gasverbrauchs. Obwohl die Speicher derzeit voll sind, reichen die gespeicherten Gasmengen trotzdem nicht aus, um Europa auch nur durch einen mässig kalten Winter zu bringen. Länder wie Irland und Grossbritannien, die tief im Westen Europas liegen, haben sehr niedrige Speicherkapazitäten und werden überproportional darunter leiden. Im Falle eines harten Winters wird Europa das Gas ausgehen. Die wirtschaftlichen Folgen wären verheerend und würden nahezu mit Sicherheit zu einem Anstieg des US-Dollars führen. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem Europa stark vom Wetter abhängt. Wenn der Winter durchschnittlich verläuft, würde Europa unserer Meinung nach einigermassen durchkommen. Damit würde ein weiteres Risiko aus der Berechnung für Risikoanlagen wegfallen, womit es zu einer Rally bei Schwellenländerwerten kommen könnte. Obwohl die Temperaturen im November zumeist über dem Durchschnitt lagen, weshalb der Gaskonsum geringer war und sich die Speicher füllten, liegt die Temperatur nun jedoch etwa vier Grad unter dem Durchschnitt. Dadurch ist der Gasverbrauch derzeit erheblich höher, als er normalerweise um diese Zeit wäre oder im letzten Jahr war. Unserer Meinung nach könnte Europa recht schnell in Schwierigkeiten geraten.
Die gute Nachricht ist, dass die Welt derzeit sehr risikoavers ist. Der überlaufenste Trade sind derzeit Long-Positionen im US-Dollar. Zudem wird der Dollar als überbewertet angesehen. Positionen in Schwellenländern sind ausserordentlich niedrig. Die Positionierung in Schwellenländerwerten ist auf ein Allzeittief gesunken und die Positionierung in Risikoanlagen ist sehr niedrig. Wenn der Winter mild verläuft, China von der Null-Covid-Politik abrückt und es in den USA nicht zu grösseren Problemen aufgrund der höheren Zinssätze kommt, könnten diese technischen Faktoren die Voraussetzungen für einen kräftigen Anstieg von Risikoanlagen bieten. Dies würde Schwellenländerwerten zugutekommen. Unter den richtigen Bedingungen könnte die Anlageklasse zu Beginn des nächsten Jahres einen Höhenflug erleben.
Aus mehrjähriger Sicht ist der Gedanke einer Abkehr von der Globalisierung und einer Rückverlagerung von Fertigungskapazitäten ins eigene Land ein wichtiger Faktor. Für Exporteure in Malaysia, Thailand und Indonesien hätte dies erheblich schwerwiegendere Auswirkungen und in geringerem Masse auch für China und Mexiko. Da die Lage in der EU robust genug ist, werden die Autofabriken unseres Erachtens nicht aus der Slowakei, Polen und Bulgarien nach Deutschland zurückverlagert. Ausserhalb der EU ist bisher noch kein nennenswertes Reshoring zu beobachten. Alle ausländischen Investitionen, die nach Russland flossen, betrafen den russischen Binnenkonsum. Wenn sich das Reshoring fortsetzt – was aber noch nicht feststeht – wird dies ein langwieriger Prozess sein. Vieles hängt auch von den nächsten US-Wahlen ab. Wir glauben jedoch, dass sich das Kräfteverhältnis in den Schwellenländern erheblich verändern könnte. Länder, die wie die Türkei, Mexiko und einige Länder in Asien bisher recht gut gefahren sind, werden gegenüber Zentraleuropa unter Druck geraten. Für die Rohstoffexporteure Südamerika und Südafrika wird sich unterdessen alles um den Rohstoffzyklus drehen. Das Reshoring und der Grad der Globalisierung sind Faktoren, an die wir uns gegebenenfalls anpassen müssen. Dies wäre jedoch ein langfristiger Trend.
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